Während des Weltjugendtages hat Papst Franziskus in einer Ansprache den Bischöfen Brasiliens das Bild von Emmaus als Schlüssel zum Verständnis von Gegenwart und Zukunft der Kirche vor Augen gehalten. Hier die Rede in Auszügen.
Vor allem darf man nicht der Angst nachgeben, von der der selige John Henry Newman sprach: „Die christliche Welt wird schrittweise unfruchtbar und erschöpft sich wie ein gründlich ausgelaugter Boden, der zu Sand wird.“
Man darf sich nicht der Ernüchterung, der Entmutigung, dem Gejammer überlassen. Wir haben viel gearbeitet, und manchmal, wenn wir auf die schauen, die uns verlassen oder die uns nicht mehr für glaubwürdig, für relevant halten, scheint es uns, als seien wir Verlierer, wie jemand, der die Bilanz einer bereits verlorenen Zeit ziehen muss.
Lesen wir in diesem Licht noch einmal die Geschichte von Emmaus (vgl. Lk 24,13-35). Die beiden Jünger laufen aus Jerusalem fort. Sie distanzieren sich von der „Nacktheit“ Gottes. Sie sind schockiert über das Scheitern des Messias, auf den sie gehofft hatten und der nun, auch nachdem drei Tage vergangen sind, hoffnungslos besiegt, gedemütigt scheint (V. 17-21) – das schwierige Geheimnis der Leute, die die Kirche verlassen; der Menschen, die sich von anderen Angeboten haben täuschen lassen und dann meinen, die Kirche – ihr Jerusalem – habe mittlerweile nichts Bedeutendes, nichts Wichtiges mehr zu bieten. Und dann ziehen sie allein des Wegs, mit ihrer Enttäuschung. Vielleicht ist die Kirche zu schwach erschienen, vielleicht zu fern von ihren Bedürfnissen, vielleicht zu arm, um auf ihre Beunruhigungen zu antworten, vielleicht zu kalt ihnen gegenüber, vielleicht zu selbstbezogen, vielleicht eine Gefangene ihrer eigenen steifen Ausdrucksweisen, vielleicht scheint es, als habe die Welt die Kirche zu einem Überbleibsel aus der Vergangenheit gemacht, unzureichend für die neuen Fragen; vielleicht hatte die Kirche Antworten für die Kindheit des Menschen, nicht aber für sein Erwachsenenalter.
Tatsache ist, dass es heute viele gibt, die wie die Emmaus-Jünger sind; nicht allein die, welche Antworten in den neuen und verbreiteten religiösen Gruppierungen suchen, sondern auch die, welche bereits gottlos scheinen, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis.
Was ist zu tun angesichts dieser Situation?
Es braucht eine Kirche, die keine Angst hat hinauszugehen, in die Nacht dieser Menschen hinein.
Es braucht eine Kirche, die fähig ist, ihre Wege zu kreuzen.
Es braucht eine Kirche, die sich in ihr Gespräch einzuschalten vermag.
Es braucht eine Kirche, die mit jenen Jüngern zu dialogisieren versteht, die aus Jerusalem fortlaufen und ziellos allein mit ihrer Ernüchterung umherziehen, mit der Enttäuschung über ein Christentum, das mittlerweile als steriler, unfruchtbarer Boden angesehen wird, der unfähig ist, Sinn zu zeugen.
Die unnachsichtige Globalisierung und die häufig wilde Verstädterung haben viel versprochen. Viele sind verliebt in die Chancen der Globalisierung, und es liegt in ihr etwas wirklich Positives. Doch vielen entgeht die dunkle Seite: der Verlust des Lebenssinns, die persönliche Desintegration, der Verlust der Erfahrung der Zugehörigkeit zu irgendeinem „Nest“, die unterschwellige, aber unversöhnliche Gewalt, der innere Bruch und das Zerbrechen der Familien, die Einsamkeit und die Verwahrlosung, die Spaltungen und die Unfähigkeit zu lieben, zu verzeihen, zu verstehen, das innere Gift, welches das Leben zur Hölle werden lässt, das Bedürfnis nach Zärtlichkeit, weil man sich so unzulänglich und unglücklich fühlt, die gescheiterten Versuche, Antworten in der Droge, im Alkohol, im Sex zu finden, die zu weiteren Gefängnissen geworden sind.
Und viele haben Abkürzungen gesucht, weil der „Maßstab“ der Großen Kirche zu hoch erscheint. Viele haben gedacht: Das Menschenbild ist zu groß für mich, das Lebensideal, das sie vorschlägt, liegt außerhalb meiner Möglichkeiten, das Ziel, das man anstreben muss, ist unerreichbar, weit oberhalb meiner Reichweite. Und doch, haben sie weiter gedacht, kann ich nicht leben, ohne wenigstens etwas – und sei es auch nur eine Karikatur – von dem zu haben, was zu hoch für mich ist, von dem, was ich mir nicht leisten kann. Mit der Enttäuschung im Herzen haben sie sich auf die Suche nach jemandem begeben, der nochmals enttäuscht.
Das starke Gefühl der Verlassenheit und der Einsamkeit, des Fehlens einer Zugehörigkeit sogar zu sich selbst, das häufig aus dieser Situation hervorgeht, ist zu schmerzlich, um verschwiegen zu werden. Es braucht ein Ventil, und dann bleibt der Weg der Klage: Wie konnten wir nur so weit kommen? Doch auch die Klage wird ihrerseits wie ein Bumerang, der zurückkommt und schließlich das Unglück noch vergrößert. Nur wenige sind noch imstande, auf den Schmerz zu hören; man muss ihn wenigstens betäuben.
Heute braucht es eine Kirche, die fähig ist, Gesellschaft zu leisten, über das einfache Zuhören hinauszugehen;
eine Kirche, die den Weg begleitet, indem sie sich mit den Menschen auf den Weg macht;
eine Kirche, welche die Nacht, die sich in der Flucht aus Jerusalem von so vielen Brüdern und Schwestern verbirgt, zu entziffern vermag;
eine Kirche, die sich bewusst wird, inwiefern die Gründe derer, die weggehen, bereits in sich selbst auch die Gründe für eine mögliche Rückkehr enthalten, doch dafür bedarf es einer mutigen Analyse.
Ich möchte, dass wir heute uns alle fragen:
Sind wir noch eine Kirche, die imstande ist, die Herzen zu erwärmen?
Eine Kirche, die fähig ist, nach Jerusalem zurückzuführen?
Wieder nach Hause zu begleiten?
In Jerusalem wohnen unsere Quellen: Schrift, Katechese, Sakramente, Gemeinschaft, Freundschaft des Herrn, Maria und die Apostel… Sind wir noch fähig, von diesen Quellen so zu erzählen, dass wir die Begeisterung für ihre Schönheit wiedererwecken?
Viele sind gegangen, weil ihnen etwas Höheres, etwas Stärkeres, etwas Schnelleres versprochen wurde. Aber gibt es etwas Höheres als die in Jerusalem geoffenbarte Liebe? Nichts ist höher als die Erniedrigung des Kreuzes, denn dort wird wirklich die Höhe der Liebe erreicht! Sind wir noch imstande, diese Wahrheit denen zu zeigen, die meinen, die wahre Höhe des Lebens sei woanders? Kennt man etwas Stärkeres als die in der Schwäche der Liebe, des Guten, der Wahrheit, der Schönheit verborgene Macht der Liebe?
Die Suche nach dem immer Schnelleren zieht den Menschen von heute an: schnelles Internet, schnelle Autos, schnelle Flugzeuge, schnelle Beziehungen… Und doch spürt man ein verzweifeltes Bedürfnis nach Ruhe, ich möchte sagen nach Langsamkeit. Versteht die Kirche noch, langsam zu sein: in der Zeit, zuzuhören, in der Geduld, [Wunden] zu vernähen und [Getrenntes] wieder zusammenzufügen? Oder ist mittlerweile auch die Kirche von der Hektik des Leistungsdrucks fortgerissen? Lasst uns, liebe Mitbrüder, die Ruhe zurückgewinnen, um zu verstehen, den Schritt auf die Möglichkeiten der Pilger, auf den Rhythmus ihres Gehens abzustimmen, lasst uns die Fähigkeit zurückgewinnen, immer in der Nähe zu sein, um ihnen zu erlauben, in der Ernüchterung, die in ihren Herzen herrscht, einen Durchschlupf zu öffnen, durch den man eintreten kann. Sie wollen Jerusalem vergessen, in dem ihre Quellen wohnen, doch dann spüren sie schließlich den Durst.
Es braucht eine Kirche, die noch fähig ist, den Rückweg nach Jerusalem zu begleiten!
Eine Kirche, die imstande ist, das Herrliche und Freudige, das von Jerusalem gesagt wird, wiederentdecken zu lassen; begreifen zu lassen, dass es meine Mutter, unsere Mutter ist und wir nicht Waisen sind! In Jerusalem sind wir geboren.
Wo ist unser Jerusalem, wo sind wir geboren? In der Taufe, in der ersten liebenden Begegnung, im Ruf, in der Berufung!
Es braucht eine Kirche, die noch fähig ist, vielen ihrer Kinder, die wie in einem Exodus umherziehen, ihr Bürgerrecht zurückzugeben.